Diagnostik und Therapie – ein differenzierter Zugang

Andreas Sandner-Kiesling

Bei jedem TherapeutInnen-PatientInnenkontakt läuft binnen weniger Sekunden ein automatischer Prozess ab, der blitzartig mit einer Diagnose und einem Therapievorschlag endet. Dort endet das begonnene offene Gespräch mit direktiven Aussagen und Empfehlungen. In den meisten Fällen funktioniert das irgendwie, leider endet es aber genauso oft mit einer/m frustrierten Patientin/en. Spätestens wenn der ursprüngliche Therapievorschlag nicht funktioniert, der Patient/die Patientin mehrfach unzufrieden wiederkehrt oder mehrere TherapeutInnen konsultiert, dann empfiehlt sich ein differenzierter Zugang zum Schmerzproblem der/des Patient/in.

Im ersten Schritt erfolgt die Anamnese. Zuerst offen narrativ zur Orientierung, was ist der/m Gegenüber wichtig, anschließend unter Einsatz strukturierter Fragen:

  • Vorerkrankungen, Vormedikation, Voroperationen, Allergien
  • Beginn, Lokalisation, Qualität, Intensität, Rhythmik, Tendenz
  • Begleitphänomene, Therapieerfolge, -misserfolge

Dadurch erhält man klare Hinweise auf die Anatomie, die Pathophysiologie, die betroffene anatomische Struktur und Behandlungsdringlichkeit des Schmerzproblems, noch vor der bestätigenden oder wiederlegenden körperlichen Untersuchung:

  • Liegen Red Flags vor? Besteht ein rascher Einweisungsbedarf?
  • Welche Schmerzentitäten sind beteiligt? Mischschmerz ist die Regel, nicht die Ausnahme!!
  • Liegen psychosoziale Chronifizierungsfaktoren (Yellow Flags) vor?

Nach den ergänzenden, jetzt sehr gezielten körperlichen und evtl. weiterführenden Untersuchungen (Bildgebung, Labor) kann man die erhobenen Befunde zusammenfassen und die erste Diagnose als Arbeitshypothese erstellen.

Auch wenn die/der Patient/In die Meinung vertritt „Es ist therapeutisch eh schon alles vergeblich ausprobiert worden“, war das üblicherweise nur der gängigste Bruchteil dessen was uns in der Schmerztherapie wirklich zur Verfügung steht. Und meist waren die bisherigen Maßnahmen und Interventionen ohne Berücksichtigung der wirklich zugrundeliegenden Schmerzursache erfolgt. Zur Erinnerung: Mischschmerz und Mischbeschwerden sind leider die Regel. Und Häufiges ist häufig, aber nicht weil es für uns bedrohlich oder spektakulär ist (z.B. der gängige Irrglaube „Jeder Kreuzschmerz ist ein Bandscheibenvorfall“).

Basierend auf dem 5-Säulenmodell der multimodalen Schmerztherapie kann rasch ein Überblick zu den sinnvollen und logischen Therapieoptionen für TherapeutIn und PatientIn geschaffen werden:

  • Medikamentöse und komplementäre Therapien
  • Physiotherapeutische Behandlungen und Maßnahmen
  • Schulungen und Interventionen durch die Psy-Disziplinen
  • Maßnahmen und Unterstützungen im sozialen Bereich
  • Invasive Maßnahmen und Therapien

Die größten Herausforderungen sind hier eine faire und ethisch korrekte Abwägung der Vor- und Nachteile der einzelnen Maßnahmen entsprechend der betroffenen Struktur, evtl. Red oder Yellow Flags und den Bedürfnissen der/des Patientin/en unter Beachtung eines leitlinienkonformen Vorgehens, nicht jedoch nach eigenen finanziellen Vorteilen aus den eigenen Empfehlungen.

Im letzten Schritt gilt es die eigenen Gedanken und das eigene Wissen der/dem Patientin/en verständlich zu erklären, besser oft sogar zu visualisieren. So kann man gemeinsam aus den vorliegenden Optionen einen für die/den Patientin/en leb- und durchführbaren Therapievorschlag erstellen.

All das klingt nach viel Zeitaufwand und einem diagnostisch-therapeutischen Zugang für wenige ausgewählte PatientInnen. Ziel des Vortrages und des anschließenden Workshops ist es zu erfahren und erlernen, wie man dieses Konzept auch in der 10-Minuten Medizin einer Ordination oder Ambulanz erfolgreich und zufriedenstellend durchführen kann.

Viel Freude und Erfolg damit!

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