Low Back Pain – Der Schmerz im Kreuz
Andreas Sandner-Kiesling
Kreuzschmerzen gehören mit Abstand zum häufigsten Schmerzsyndrom, mit dem wir im klinischen Alltag konfrontiert sind. So wurde im Mikrozensus 2006/7 in Österreich eine Prävalenz von knapp 40% geschlechterunabhängig erfasst. Damit gehört dieses Schmerzsyndrom gemeinsam mit Burnout zu jenen Beschwerden, die die höchsten Frühberentungsraten und Kosten im Gesundheitssystem verursachen.
Nicht alles was im Kreuz schmerzt ist automatisch ein Bandscheibenvorfall. Kreuzschmerz kann sehr einfach und in über 80% selbstlimitierend sein, unabhängig von der zuvor durchgeführten Intervention. Gleichzeitig kann er sehr komplex und fordernd für die begleitenden TherapeutInnen sein. Leider werden wir auf der therapeutischen Seite ebenfalls zu entscheidenden Chronizierungsverursachern bzw. -verstärker, durch missverständliche Kommunikation bzw. durch ein inzwischen überholtes, rein mechanistisches Ursachen- und Therapieverständnis (siehe Nationale Versorgungsleitlinie/NVL Kreuzschmerz in der aktuellen Version 2017).
Im Rahmen des Erstkontaktes sollen potentiell gefährliche Verläufe oder Erkrankungen erkannt werden (sogenannte Red Flags: Nervenkompressionen, Tumore, Entzündungen oder Frakturen) Sind Red Flags vorhanden, dann nennt man diesen Kreuzschmerz spezifisch. Sind anamnestisch oder in der körperlichen Untersuchung Hinweise auf Red flags erkennbar, soll der Patient/die Patientin so rasch als möglich dem Facharzt (meist im Krankenhaus) zur weiteren Abklärung und Behandlung vorgestellt werden. In diesem Fall sind Bildgebung (Röntgen, CT, MR) oder eine Laboruntersuchung indiziert, da mit einem dringend zu behandelnden Ergebnis zu rechnen ist.
Fehlen Hinweise auf Red Flags, dann spricht man vom nicht-spezifischen Kreuzschmerz. Auch wenn diese Bezeichnung nur darauf hinweist, dass keine Red Flags vorliegen, in sich ist sie ein Überbegriff für alle anderen Beschwerden im Kreuz, egal ob sie rein mechanisch (= funktionell) oder psychosomatisch verursacht werden. Diese Inhomogenität schafft gleichzeitig die größte Herausforderung in unserem Verständnis, in der von uns gesuchten Kausalität und Behandlung der präsentierten Beschwerden. Und macht uns TherapeutInnen unfreiwillig zum Chronifizierer (siehe oben).
Hilfreich für die Diagnostik und Therapie nicht-spezifischer Kreuzschmerzen sind die Leitlinien, die mit viel Aufwand evidenzbasiert und konsensuell nach Sichtung der gesamten vorhandenen Literatur erstellt wurden, z.B. die Europäische Leitlinie 2006, die NICE Leitlinie der Briten 2009, oder als aktuellste, die deutsche, sehr umfangreiche und pragmatische NVL „Kreuzschmerz“ in der Letztversion von 2017. Auf diese Leitlinie beziehe ich mich in den nächsten Zeilen. Eine gewisse Unschärfe bleibt jedoch auch bei Verwendung dieser Leitlinien immer: Sie können nie Antworten auf alle Fragen anbieten. Und die Empfehlungen sind so gut wie die für die Erstellung der Leitlinie verwendeten Publikationen in ihrem wissenschaftlichen Wert gut oder überhaupt vorhanden sind.
Akuter nicht-spezifischer Kreuzschmerz besteht max. 6 Wochen. Seine Ursachen sind meist mechanisch-funktionell, gut in ihrer Prognose und meist unabhängig von der begleitenden Intervention selbstlimitierend. Deswegen basiert die Therapie primär auf entlastende/beruhigende Aufklärung und der Bekräftigung, auf jeden Fall in Bewegung zu bleiben („Stay active“). Analgetisch werden primär Nichtopioide (NSAR = nichtsteroidale Antirheumatika, alternativ Metamizol oder Coxibe), in Ausnahmen Opioide empfohlen. Nichtmedikamentös baut die Behandlung auf Bewegung auf, generell beim Kreuzschmerz die wichtigste und letztlich einzige wirklich wirksame Therapie. Begleitend kann Akupunktur, Manualtherapie, PatientInnenedukation, Verhaltentherapeutische Techniken und Wärmeeigenbehandlung zusätzlich zur aktiven Bewegung angeboten werden. Von jeglicher Form von Infusionen, Spritzen, Injektionen oder Operationen wird dringend abgeraten, ebenso von jeglicher Bildgebung oder Labordiagnostik. Ebenso fehlt für andere medikamentöse oder nicht-medikamentöse Verfahren die zur Empfehlung nötige Evidenz, oder sie ist sogar negativ. Entscheidend im gesamten Behandlungsprozess sind die regelmäßigen Kontrollen beim Arzt des Vertrauens („Lotse“).
Bestehen die Beschwerden länger als 2-4 Wochen, liegen noch immer akute nicht-spezifische Kreuzschmerzen vor. Jetzt soll aber der Patient/die Patientin nochmals genau befragt und untersucht werden, ob nicht doch Red Flags vorliegen. Zu diesem Zeitpunkt kann es erstmals sinnvoll werden eine weiterführende Diagnostik durchzuführen (Bildgebung, Labor).
Ab hier soll der Patient/die Patientin auf das Vorhandensein von psychosozialen Chronifizierungsfaktoren (= Yellow Flags) grob gescreent werden: Depression, Ängste, privater und beruflicher Disstress, Katastrophisieren, Angst-Vermeidungsverhalten, Hoffnungslosigkeit und non-verbales Kommunikationsverhalten. Gerade das Angst-Vermeidungsverhalten wird als der aktuell stärkste Chronifizierungsfaktor betrachtet: Aus lauter Angst, dass das unangenehme Ereignis Schmerz nochmals auftreten kann, vermeidet man normale Bewegung und die uns belohnenden, schönen Aktivitäten unseres Lebens (Urlaubsreisen, Besuch bei Familie, Sport, Hobbies, Arbeit, etc.)
Sind keine Hinweise auf das Vorhandensein von Red oder Yellow Flags findbar, soll der Patient/die Patientin nochmals über die Gutmütigkeit seiner Beschwerden und die Wichtigkeit von körperlicher Aktivität aufgeklärt werden.
Ab der 7. Woche seit Beginn der Kreuzschmerzen spricht man von subakuten, ab der 13. Woche von chronischen nicht-spezifischen Kreuzschmerzen. Spätestens jetzt werden Yellow Flags ein tragender Teil der Beschwerden, die Behandlung komplexer. Die primär auslösende Ursache der Kreuzschmerzen ist zu diesem Zeitpunkt längst als „Schmerzursache“ unwichtig geworden. Eigene Ängste und Sorgen, ein gesteigertes Körpergefühl („Hinhören zum Schmerz“), zunehmende Verspannungen, zu viel Diagnostik, zu wenig beruhigende Aufklärung, zu wenig ärztliche/therapeutische Deeskalation führen zur massiven und anhaltenden Steigerung der subjektiv real erlebten Beschwerden.
Auch hier stellt aktive Bewegung die wichtigste Therapie zur Behandlung subakuter oder chronischer nicht-spezifischer Kreuzschmerzen dar, begleitet von entlastenden und beruhigenden Gesprächen unter kontinuierlicher Begleitung durch den ärztlichen „Lotsen“. Dieses Konzept aus gleichzeitiger physiotherapeutischer, psychologischer/psychotherapeutischer und ärztlicher Begleitung nennt man multimodale Therapie. Das Geheimnis des therapeutischen Erfolges liegt jetzt in der Gleichzeitigkeit der durchgeführten Interventionen/Begleitungen, in der Deeskalation und Beruhigung des Patienten/der Patientin. Je chronischer die Beschwerden, d.h. je länger und intensiver sie bestehen, umso eher sollte die multimodale Therapie stationär durchgeführt werden, wobei wir in Österreich dazu leider nur wenige Angebote haben.
Auch hier gelten die Empfehlungen zur medikamentösen und nicht-medikamentösen Therapie der akuten nicht-spezifischen Kreuzschmerzen, erweitert durch Massage in Kombination mit Bewegungstherapie, Entspannungstechniken, evtl. ergo- oder psychotherapeutische Interventionen und Antidepressiva bei Vorhandensein von psychiatrischen Begleiterkrankungen.
Spätestens ab der 13. Woche seit Beginn der Beschwerden nimmt das Risiko der dauerhaften Beeinträchtigung oder des Dauerkrankenstandes zu. Kann der Patient/die Patientin nicht einer deeskalierenden und bestärkenden multimodalen Therapie zugeführt werden, fühlt sich der Patient von uns und dem Gesundheitssystem im Stich gelassen. Für ihn bleibt dann scheinbar nur noch der Weg in die Frühberentung. Spätestens dann befindet sich der Patient/die Patientin in einer klassischen Zwickmühle: Wir TherapeutInnen und der Patient/die Patientin haben einen Zielkonflikt. Wir wollen ihn/sie in den Arbeitsprozess wieder zurückführen, er/sie aber aus diesem endgültig aussteigen. Oft bricht hier das therapeutische Verhältnis ab, für den Patienten/die Patientin eine echte Eskalation und Verzweiflung.
… begonnen hat alles als ein primär harmloser Kreuzschmerz. Es liegt an uns und unserem Hausverstand, unserer Empathie und unserem biopsychosozialen Verständnis, es gar nicht so weit kommen zu lassen …! Es liegt an uns. Machen wir es besser!